Benedikt Maria Trappen
Rituale bewahren wesentliches Wissen und Können. Sie wirken, auch wenn vieles von dem, was in Worten, Handlungen, Bildern und Symbolen überliefert ist, vielen unbewusst geworden ist und bleibt. Geschichten, Erzählungen und Gebete gehören dazu. Im Laufe der Zeit kommt es daher immer wieder vor, dass sich Bedeutungen ändern und vieles nicht mehr verstanden wird.
Eines der bekanntesten Gebete des christlichen Abendlandes, das „Vater unser“, enthält die Zeile „Und führe uns nicht in Versuchung“. Ausgerechnet Gott, das oberste Gut, den höchsten Guten, bitten wir, uns nicht in Versuchung zu führen? Ist der Versucher, christlich verstanden, nicht Satan, Lucifer, der Teufel, das Böse? Zu wem sprechen wir, wenn wir so sprechen? Diese Frage beschäftigte mich schon früh. Sie ergibt keinen Sinn, solange „Gut“ und „Böse“ nicht als polare Einheit verstanden werden. Sinn allerdings macht die Bitte „Und führe uns in Versuchung.“ Wann bräuchten wir mehr Führung als „in Versuchung“, in Dunkelheit, Orientierungslosigkeit, Gefahr der Zersplitterung, Unwissenheit, haltlosem Getriebensein. Kann es sein, fragte ich mich vor Jahrzehnten schon, dass hier unbemerkt und unbewusst etwas Wesentliches verloren gegangen ist, nicht mehr richtig betont und verstanden wurde? Die Bitte um Führung, um Richtung und Orientierung, die nicht die Stimme des oberflächigen Verstandes meint, sondern aus den Tiefenschichten des Menschen wirkt und spricht?
Solcher Führung verdanke ich mein Leben. Als an meinem 28. Geburtstag alles, was ich vermeinte zu sein, zu können und zu wissen plötzlich erneut zusammenbrach und sich in Nichts auflöste, fuhr ich zu Freunden in die Eifel, die auf einem kleinen Bauernhof am Dorfrand mit Kindern als Selbstversorger lebten. Einer der Jungen setzte sich in meine Nähe und sagte wie zu sich selbst: „Alles, was anfängt, das hört auch wieder auf. Und Anfangen ist immer etwas einfacher und Aufhören immer etwas schwerer.“ – Was für eine Weisheit und Erleuchtung… Der andere schenkte mir ein selbst gemaltes Bild, auf dem eine Sonnenblume vor einem starken grünen Baum blüht. – Was für eine Hoffnung, was für ein Trost… Während eines Spazierganges in den nahen Wald in den folgenden Tagen, allein, tauchte plötzlich wie ein Stern in der Nacht, die Idee auf „Werde Grundschullehrer!“ Zwar hatte ich bereits Alternativen zu dem damals noch unabgeschlossenen Studium in Erwägung gezogen – Waldarbeiter, Musiktherapeut und Journalist – diese überraschende Wegweisung aber kam ganz sicher nicht von mir. Obwohl vollkommen fernliegend, war sie so überzeugend, dass ich sofort meinen Vater aufsuchte und ihm meinen Entschluss mitteilte. Dass ich in dieser verzweifelten Situation mein Studium nach so vielen Jahren doch noch abschloss, verdanke ich dem Zuspruch meines Nachbarn, dem später tödlich verunglückten mehrfachen Segelflugweltmeister Prof. Dr. Helmut Reichmann, und der Unterstützung meines Lehrers Prof. Dr. Frank-Werner Veauthier.
Dass mit und durch die Zerstörung, Vernichtung all dessen, was uns existentiell, wichtig, sinnvoll, notwendig und wertvoll erscheint nicht nur neues Leben möglich, sondern geradezu Rettung erfolgen kann, habe ich damals gründlich erfahren. „Wo der Schrecken wirklich ist, ist die Heilung sicher.“ Oder – in den Worten Hölderlins – „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
„Und führe uns in Versuchung“ kann ich daher guten Gewissens jedem als Gebet empfehlen, der sein Leben bedroht, in Frage gestellt, in Unsicherheit und Gefahr weiß. Wer von uns könnte sich heute davon ausnehmen?
(Foto oben: Ralf Pooch)