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Das große Vergessen: Konfuzius, Buddha, Christus

Leo Tolstoi

Aus einem Brief, den Graf Leo Tolstoi am 5. Januar 1896 in Moskau schrieb:

„Kaiser Wilhelm hat kürzlich ein Bild gemalt, in welchem die Völker Europas bewaffnet am Ufer des Meeres stehen und nach Anweisung des Erzengels Michael nach den in der Ferne sichtbaren Gestalten von Buddha und Konfuzius blicken. Nach der Absicht des Malers sollte dies bedeuten, dass sich Europas Völker Europas vereinigen sollten, um der von dorther nahenden Gefahr entgegenzutreten, und er hat vollkommen recht, gerade von seinem Standpunkt als Patriot. Die europäischen Völker haben Christus im Namen ihres Patriotismus vergessen und haben diese friedlichen Völker aufgereizt und sie Patriotismus und Kriegskunst gelehrt, und jetzt haben sie sie so sehr aufgestachelt, dass, wenn in Wirklichkeit Japan und China die Lehre von Buddha und von Konfuzius ebenso vergessen, wie wir Christi Lehre vergessen haben, sie sehr bald die Kunst, Menschen zu morden, lernen (das geht sehr schnell, wie die Japaner beweisen) und furchtlos, gewandt, stark und zahlreich werden und unfehlbar sehr bald aus den Ländern Europas dasselbe machen werden, was die Länder Europas aus Afrika machen, wenn die Europäer nicht verstehen, ihnen etwas Stärkeres entgegenzusetzen, als die Waffen und die Erfindungen Edisons. Der Jünger ist nicht über seinem Meister. Wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. (Lukas VI, 40.)

Auf die Frage eines Fürsten, wie und um wieviel er seine Truppen vermehren solle, um ein südlich von ihm lebendes, noch nicht unterworfenes Volk zu besiegen, erwiderte Konfuzius: ‚Beseitige Deine ganze Truppenmacht. Verwende das, was Du jetzt für die Truppen ausgibst, auf die Bildung Deines Volkes und auf den Aufbau der Landwirtschaft, wird das südliche Volk seinen Fürsten verjagen und sich ohne Krieg Deiner Herrschaft unterwerfen.‘

So lehrte Konfuzius, den man so verehrt. Wir aber vergaßen Christi Lehre, verleugnen ihn und ziehen aus, um Völker mit Gewalt zu unterwerfen, und dadurch machen wir uns nur neue und stärkere Feinde als unsere Nachbarn. Einer meiner Freunde, welcher das Bild Kaiser Wilhelms gesehen hatte, sagte: ‚Das Bild ist schön, nur stellt es nicht das vor, was die Unterschrift besagt: Es stellt dar, wie der Erzengel Michael allen Völkern Europas, welche als schwerbewaffnete Räuber dargestellt sind, das zeigt, was sie zu Grunde richtet, nämlich die Milde Buddhas und den Verstand des Konfuzius.‘ Er hätte hinzufügen können ‚und die Demut des Lao-Tse‘. Und wir haben wirklich infolge unserer Heuchelei Christus soweit vergessen und aus unserem Leben alles Christliche ausgerottet, dass die Lehren des Buddha und des Konfuzius unvergleichlich höher stehen als jener barbarische Patriotismus, durch den sich unsere pseudochristlichen Völker leiten lassen.

Und darum liegt die Rettung Europas und der christlichen Welt gar nicht darin, dass sie sich wie Räuber mit Schwertern umgürten, um Menschen jenseits des Meeres zu morden, sondern im Gegenteil darin, dass sie sich von den Überresten barbarischer Zeiten, dem Patriotismus, lossagen, die Waffen ablegen und den Völkern des Ostens nicht das Beispiel eines wilden, barbarischen Patriotismus geben, sondern das Beispiel brüderlicher Liebe, die uns Christus lehrte.“