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Wer Abenteuer sucht, darf sich nicht wundern, wenn er eins findet

Benedikt Maria Trappen

Schweden hat zahlreiche große Nationalparks, die Wanderwege für vielfältige Ansprüche bieten, von sehr kurzen über viele Kilometer lange Rundwanderwege bis zu mehrtägigen Wanderrouten. Einer davon ist der Nationalpark Sonfjället im mittleren Westen. Karten weisen Wege in unterschiedlichen Farben aus, und die meisten Touren haben Namen. Allerdings sind alle Wege in Wirklichkeit orange gekennzeichnet und Beschilderungen eher selten. Es kann daher vorkommen, dass man sich für eine etwa 10 km Tour mit 100 Höhenmetern rund um den Berg entscheidet, die in etwa vier Stunden zu bewältigen ist, um nach vier Stunden festzustellen, dass man zwei Stunden zuvor an einer unscheinbaren Wegkreuzung nicht dem rechten, sondern dem linken orangenen Pfad hätte folgen sollen.

Da ein Rundweg ein Rundweg bleibt, auch wenn man vom Weg abgekommen ist, wenn man sich weiter immer nur rechts hält, ist die Strategie klar, und die Wanderung muss weitergehen. Führte der Weg bisher durch Heidelandschaft, aus der immer noch Fichten und Birken hervorragen, von Heidelbeersträuchern und Krähenbeeren durchwachsen und von Zwergkiefern gesäumt, wird er nun immer steiniger und steiler. Die Bäume bleiben allmählich zurück. Berggipfel treten aus dem Dunst hervor, zu denen nur noch Geröllfelder steil emporführen. Noch wachsen niedrige Wachholdersträucher und Flechten zwischen den Steinen. Am Horizont heben sich Berglinien hintereinander ab. Seen blitzen im Sonnenlicht in der Ferne wie magische Augen. Soweit das Auge reicht: Steine, Steine, Steine…

Vereinzelte Rentiere grasen zwischen den Steinen und suchen sich gemächlich ihren Weg. Nach steilem Anstieg tauchen irgendwann zwei kleine Holzhütten auf, die dem Wanderer in der Not Zuflucht gewähren: Sododalen. Stahlseile sichern sie gegen hier oben immer wieder heftig tobende Stürme. Eine Leiter führt, wie bei allen schwedischen Holzhäusern, aufs Dach. In der Ferne steigen zwei Wanderer langsam einen steilen Berghang hinauf – die ersten Menschen seit Beginn der Wanderung überhaupt.  Die Orientierung auf der Karte ist jetzt wiedergefunden. Und nach einer kurzen Erholungspause führt der Weg hinter den Hütten weiter, immer rechts, immer den orangenen Steinen nach…

Kam man zuvor schon immer wieder an kleineren Bachläufen vorbei, die sich geräuschvoll ihren Weg in die Tiefe suchen, rauscht bald in breiten Geröllrinnen Wasser in die Tiefe. Im Frühjahr tost und braust hier das Schmelzwasser und der Weg ist unpassierbar. Orangene Steine führen den Wanderer immer wieder von einer Seite der Schmelzwasserrinne auf die andere. Wind kommt auf. Es wird kühl. Auch, wenn das Wetter nach ausgiebigen Regenfällen noch kurz vor Beginn der Wanderung hält, sogar die Sonne immer wieder hervorkommt und es noch nicht so bald dunkel wird, kann man allmählich unruhig werden.

Nichts, soweit das Auge reicht, außer der immer wieder auftauchenden orangenen Farbe, deutet auf Menschen und Zivilisation oder einen Rundweg hin. Vor Jahrtausenden hat es hier genau so ausgesehen wie heute. Steil aufragende abweisende Berghänge links, sich in der Ferne verlierende, stetig ansteigende Geröllfelder rechts. Vor dir Steine, zwischen denen du dir deinen Weg achtsam suchen musst, der jetzt wieder langsam ansteigt. Du kannst den orangenen Farbflecken mit den Augen folgen, bis sich der Weg in der Ferne verliert. Wer immer rechts geht, kommt irgendwann zum Ausgangspunkt zurück. Immer wieder prüfst du die Logik dieser intuitiven Gewissheit, der die Umgebung so gar nicht entsprechen will…

Plötzlich, am Horizont, taucht ein Wanderer auf, dann ein zweiter. Eine Gruppe von Menschen kommt dir entgegen, langsam, über das Geröllfeld, auf dem du immer wieder nur mit Händen und Füßen vorsichtig tastend vorankommst. Die Gruppe, scheint es, kommt dir auf demselben Weg entgegen. Der Wind trägt dir Sprachfetzen zu… Landsleute… mit Kindern.

„Hej!“ – „Hej! Wisst ihr ungefähr, wo ihr seid?“ Überrascht von der unerwarteten Ansprache auf Deutsch bleiben die Wanderer stehen. Neugierig betrachten uns die Kinder. „Na ja, so in etwa, hoffentlich.“ – „Wohin kommen wir, wenn wir diesem Weg weiter folgen?“ – „Wenn ihr hier weitergeht, wo wir herkommen, seht ihr bald Nyvallen’s Setter.“ –  Wir atmen erleichtert auf: Unser Ausgangspunkt. „Und ihr? Wohin seid ihr jetzt noch unterwegs?“ – Ein Mann zeigt die geplante Route auf der Karte. Mit Kindern, auch wenn der Weg deutlich kürzer ist, als der, den wir zurückgelegt haben, immer noch ein Abenteuer im Geröllfeld.

Eine Frau fragt, wann wir losgegangen sind und was wir unterwegs gesehen haben. „Passt gut auf euch auf“, verabschieden wir schließlich die Gruppe, „und kommt nicht vom Weg ab.“ Sie lachen, danken und wünschen uns einen guten Abstieg. Verwundert, aber dankbar gehen wir weiter. Die ursprünglich geplante „Umrundung“ passt mit dem Wort „Abstieg“ nicht wirklich zusammen. Nach einer Weile versperrt ein rot-weißes Band den Weg. Der Weg, informiert ein Hinweisschild auf Englisch, sei steil und von Steinschlägen gefährdet. Eine ausgewiesene alternative Route über Steine ist zwei Kilometer länger.

Wir entscheiden uns für den kürzeren, wenn auch gefährlicheren Weg, der eine Weile noch breit und sicher vor uns verläuft. Plötzlich taucht ein atemberaubendes Panorama auf. In der Tiefe winzige Häuser und zwei leuchtende Seen. Links und rechts unendliche Weite. Berge. Wälder. Neben uns der steil aufragende Berggipfel. Vor uns der steile, steinige, von den Regenfällen rutschig gewordene Abstieg. Langsam und vorsichtig bewegen wir uns zwischen rollenden Steinen in die Tiefe und  erreichen wieder die Baumgrenze. Der Weg führt schließlich an einer Alm vorbei, auf der zwischen Steinen und Bäumen Kühe grasen. Erst jetzt wird uns klar, dass wir beim Auf- und Abstieg jeweils 500 Höhenmeter zurückgelegt haben. Aus den geplanten vier Stunden und zehn Kilometer sind unverhofft sechs Stunden und 17 Kilometer geworden. Müde, aber dankbar finden wir zu unserem Auto zurück. Wer Abenteuer sucht, darf sich nicht wundern, wenn er eins findet. Und was die verschiedenfarbig ausgewiesenen Wege auf der Karte und deren Kennzeichnung in der Wirklichkeit angeht: Diese originelle schwedische Idee hat ganz sicher spirituelles Potential…