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Deutschland verdummt

Benedikt Maria Trappen

Über Michael Winterhoffs Buch Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut (2019).

Man muss Winterhoff nicht in allem zustimmen, er ist schließlich Kinder- und Jugendpsychiater und Therapeut, kein Lehrer, Lernpsychologe, Bildungswissenschaftler oder Pädagoge. Lesen und ernst nehmen sollte man aber, was er schreibt. Hat er doch vor dreizehn Jahren bereits auf ein bis dahin kaum wahrgenommenes Phänomen aufmerksam gemacht: Kinder und Jugendliche, die über die erwarteten altersgemäßen Verhaltensweisen nicht verfügen, weil ihre Seelen unentwickelt geblieben sind.

Zwar hat der amerikanische Psychologe Daniel Goleman bereits 1995 die Bedeutung emotionaler Intelligenz eingehend beschrieben und Folgerungen daraus gezogen. In der deutschsprachigen Bildungsdiskussion spielten seine Überlegungen aber keine Rolle. Winterhoff kritisiert in erster Linie auch nicht pädagogische und didaktische Konzepte. Auch er hat Hatties große Meta-Studie gelesen und weiß, dass es bei gutem Unterricht vor allem auf die Passung ankommt zwischen allen am Lerngeschehen Beteiligten: Lehrer, Schüler, Inhalte, Medien, Sozial- und Unterrichtsformen. Genau hier setzt seine Kritik an. Kinder, deren Psyche nicht altersgemäß entwickelt ist, sind mit offenen Angeboten und eigenständigem Lernen überfordert.

Was sie brauchen ist Bindung und Beziehung, ein reifes, in sich ruhendes, erwachsenes Gegenüber, an dem sie sich orientieren können. Dieses Halt gebende, Richtung weisende, Grenzen und Anderssein erlebbar machende Gegenüber kann nicht ein Lernbegleiter im Hintergrund sein, der nur gelegentlich und auf Nachfrage das sich ansonsten mit einer Vielfalt von Material selbst steuernde Kind unterstützt. Das ganzheitliche Herzstück klassischer Bildungstheorien wird zwar in Sonntags(vor)reden bekannter Kompetenzauflistungen immer noch erwähnt, fällt aber weitgehend durch das Raster leicht messbarer Kompetenzen.

Die allgegenwärtige Kompetenzorientierung betrachtet Winterhoff daher als bildungspolitische Mogelpackung, zumal er die deutliche Tendenz sieht, Anforderungen immer weiter zurückzunehmen. Die Erwartungen passen sich den rückläufigen Fähigkeiten an, damit die Bildungskatastrophe nicht allzu offensichtlich wird. Zumindest bis zum Eintritt in das wirkliche Leben. Seine aus diesen kritischen Wahrnehmungen abgeleiteten bildungspolitischen Forderungen sind vielfältig. Der Personalschlüssel in (Grund-) Schulen muss deutlich erhöht werden, Doppelbesetzungen müssen die Regel sein. Die Bezahlung der Lehrkräfte muss besser werden. Die ideologisch begründete Bevormundung der Lehrkräfte und Schulleitungen muss aufhören.

Der Lehrer muss wieder im Mittelpunkt stehen. Ganztagsschulen können den Weg weisen, aber nur, wenn sie finanziell besser und personell professionell ausgestattet werden. Entsprechend kritisch sieht er daher auch die kostspielige, von einer mächtigen Wirtschafts-Lobby vorangetriebene Digitalisierung in Kindertagesstätten und Grundschulen. Das Buch ist ein Spiegel, in dem sich alle am Bildungswesen Beteiligten wiedererkennen können. Es bietet vielfältige Anlässe zum selbstkritischen Austausch und sollte daher in keiner schulischen Lehrerbibliothek fehlen.

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. GLVH 2019.