Benedikt Maria Trappen
über Karl Ove Knausgards Roman Aus der Welt
Wenn das 1998 in Norwegen veröffentliche, preisgekrönte Erstlingswerk von Karl Ove Knausgard, das 22 Jahre später endlich auch auf Deutsch erscheint, skandalverdächtig ist, dann sicher, weil das Vorzeigeland Norwegen Lehrkräfte einstellt, die nicht hinreichend qualifiziert sind. Die aus der Verzweiflung des neurotisch verstrickten 26 jährigen Aushilfslehrer Henrik Vankel hervorgehende Beziehung zu seiner 13 Jahre alten Schülerin Miriam dagegen befriedigt weder Voyeuristen, noch Moralwächter wirklich. Die Schilderung der Phantasien, Begierde und der einmaligen erotischen Begegnung nimmt nicht nur vergleichsweise wenige Seiten des mehr als 900 Seiten umfassenden Romans ein. Knausgard lässt zudem keinen Zweifel daran, dass sein alter Ego das Unmögliche und Unkonventionelle dieser Versuchung klar sieht. Anderseits aber ist das Licht, das diese, von der Allgemeinheit tabuisierte, nicht akzeptable Romantik und Begierde in die FInsternis seines neurotischen Lebens wirft, die einzige Hoffnung auf Authentizität. Henrik Vankel ist „aus der Welt“ gefallen, eine Borderline-Persönlichkeit jenseits aller Unmittelbarkeit und Natürlichkeit, zwischen tausend Spiegeln, vor sich selber falsch, ein Fremder. Was ihn von anderen Neurotikern unterscheidet, ist seine Gabe zu beobachten und zu schreiben. Der deutsche Leser heute hat dem Norwegischen Leser von 1998 voraus, nicht nur das Folgewerk Alles hat seine Zeit, sondern auch das umfangreiche sechsbändige autobiographische Werk bereits zu kennen. Vieles, was in Aus der Welt nur angedeutet wird, kennt er bereits ausführlich. Er weiß, dass Erbsünde ein ebenso treffender Titel wäre wie Mein Kampf. Wenn das, was ich jetzt bin, Folge all dessen ist, was vor mir war, was andere gedacht und getan, was ich selbst gedacht und getan habe, bleibt für Freiheit, Unschuld und Reinheit wenig Spielraum. Wenn die Verunmöglichung der Freiheit eine Folge des normalen, konventionellen Lebens ist, kann der Weg zurück, zum Ursprung, die Aufhebung dieser „Erbsünde“ nur ein Tabubruch sein. Indem Henrik dieser unmöglichen, paradoxen, öffentlich sanktionierten Versuchung nachgibt, folgt er dem einzigen Weg, der zur Authentizität zurückführen kann. Das ist der existentielle Kern des Romans, das, was ihn exemplarisch macht. Zugleich aber ist diese Versuchung der Begierde gegen besseres Wissen mehr: ein Bild für die Kurzsichtigkeit der Moderne, die das Wohlergehen der Erde für die Befriedung kurzsichtiger Genüsse und Begierden aufs Spiel setzt. Henrik Vankel ist damit kein bisschen unvernünftiger als die Möchtegermoralapostel unserer Zeit. Und das Wagnis, hinab zu tauchen in den Abgrund der Zeit, der uns alle bedingt, gewinnt ebenso mythologische wie vernunftkritische Dimensionen. Henrik Vankel macht sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, begegnet den Selbstbildern, die er einmal war, durchschaut sie, fühlt mit ihnen, verachtet sie. Kann dieser Weg in die Tiefe, der radikale Versuch der Wiederholung, gelingen und zur Auferstehung führen? Literatur, das spüren wir bereits hier, kann ein Experiment mit der Wahrheit sein, ein Wagnis auf Leben und Tod. Niemand reißt sich selbst und anderen die Masken unbeschadet vom Gesicht. Die Widerstände sind absehbar, die Gefahren vielfältig. Knausgard hat, wie wir inzwischen wissen, im wirklichen Leben den Preis für dieses Wagnis bezahlt, Wahrheit hinter der Familienmythologie zu entdecken. Dazu braucht er immer wieder auch Phantasie. Mit Phantasie erweckt er das Vorleben der Eltern und Großeltern zum Leben. Könnte es so gewesen sein? So ähnlich jedenfalls. Was hat zwei Menschen zusammengeführt, die dann Eltern anderer Menschen wurden, die wieder Eltern anderer Menschen wurden? Die Erbsünde… Das lebenslange, jahrhundertelange, jahrtausendealte Verhängnis… Wie hängen die Ereignisse zusammen? Wäre nur eines anders verlaufen, wäre die ganze Geschichte eine andere… Knausgard führt uns diese Fatalität phantastisch vor, wenn er enzyklöpädisch bedeutsame Namen mit fiktiven Biografien versieht, u.a. Kant und Dante Alighieri. Und dem lieben Gott räumt Knausgard alias Henrik Vankel fünf Minuten ein, um ihm zu erklären, wer er ist. Und Gott bestätigt ihm, dass alles sich genau so zugetragen hat, wie es geschrieben steht, buchstäblich. Und schenkt ihm Die göttliche Komödie. In Alles hat seine Zeit hat Knausgard die Mythologie des Alten Testaments erneut aufgegriffen und Familienmythologie darin gespiegelt. So ist das. Die alten Geschichten gehen uns an, immer noch, und mehr, als uns bewusst und lieb ist. „Glück ist nichts für mich“, hat Knausgard einmal geantwortet, für den Schreiben die Möglichkeit äußerster Annäherung und gleichzeitiger Distanzierung ist. Nietzsche hätte sich ähnlich geäußert.
Karl Ove Knausgard: Aus der Welt. Luchterhand 2020, 928 Seiten, 26 €, ISBN 978-3630874371 ,