Birgit Zotz
Ich saß in meiner ersten Vorlesung der Kultur- und Sozialanthropologie (Ethnologie) an der Universität und hörte den Professor zu „Religionsethnologie und Bewusstseinsforschung“. Zu diesem Zeitpunkt war ich vierundzwanzig Jahre alt und hatte gerade realisiert, dass in meiner schon bisher – naja, sagen wir mal – kurvigen Biografie die nächste Abzweigung ansteht.
Ich hatte zuvor Tourismusmanagement an der Wirtschaftsuniversität studiert und realisierte, was ich schon lange gefühlt hatte: „Damit werde ich mich nicht den Rest meines Lebens beschäftigen.“
Der erwähnte Professor zeigte dieses Bild: „Die blinden Männer und der Elefant“. Mehrere blinde Männer stehen um einen Elefanten, und jeder von ihnen ertastet dort, wo er steht, das Tier. Sie diskutieren nun darüber, wie ein Elefant aussieht, und sind sich äußerst uneinig in ihren Beschreibungen: Einer steht am Rüssel und sagt: „Der Elefant hat die Form eines Schlauchs.“ Ein anderer tastet den Bauch und meint, er hätte eher die Form einer liegenden Tonne. Jener der den Schwanz tastet, kommt zu dem Schluss, er hätte die Form eines Seiles; der Mann am Bein ertastet eine Säule; usw.
Der Professor erklärte anhand dieses Bildes, wie er wissenschaftliche Forschung einordnete und, dass es immer nur ein kleiner Ausschnitt ist, den wir mit unserem Alltagsbewusstsein erfassen können. Er sprach von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, die in vielen Gesellschaften durch Riten hervorgerufen werden. Und, dass wir davon mit unseren wissenschaftlichen Methoden eben auch nur einen Ausschnitt verstehen können.
Wie ihr man sich denken kann, unterschied sich diese Vorlesung massiv von meinen bisherigen an der Wirtschaftsuniversität. Ich war mir aber absolut sicher, dass ich das studieren möchte. Nebenbei bemerkt, war dieser Professor als eine absolute Ausnahmeerscheinung auch an diesem Institut nicht unumstritten.
Das Bild von den blinden Männern und dem Elefanten trage ich bis heute sehr lebendig in mir: Ich weiß, dass ich den ganzen Elefanten nur erahnen kann, aber es ist durchaus möglich, die Position eines an anderer Stelle Tastenden unvoreingenommen einzunehmen und so ein Stück mehr zu verstehen.
Diese Parabel wird in mehreren spirituellen Richtungen tradiert. Sie entstand auf dem indischen Subkontinent. Ihre älteste Erwähnung findet sich im buddhistischen Text Udāna (6.4), der um 500 v. Chr. entstand, obwohl die Geschichte vielleicht in mündlicher Form weitergegeben, älter ist. Darüber hinaus findet sie sich in hinduistischen, jainistischen und Sufi-Texten.
Im Buddhismus wendete man das Gleichnis auf religiöse Streitigkeiten an, bei denen keiner die ganze Wahrheit sieht. Im Jainismus stellte man damit die vielen Dimensionen dar, in denen sich die Wahrheit zeigen kann, und der Sufi Rumi zeigte daran die limitierte Wahrnehmung des Bewusstseins. Im Rigveda heißt es sinngemäß: „Es gibt nur eine Wirklichkeit, doch verschieden reden die Weisen davon.“
Manche Religionen und Einzelne beanspruchen, die Wahrheit zu kennen. Ihre subjektive Wahrnehmung kann zwar richtig sein, gilt aber nur für den jeweils gesehenen Ausschnitt.
Wir erkennen oft nicht, dass wir nur einen limitierten Ausschnitt überblicken und bilden uns trotzdem unsere Wahrheiten. Ein Perspektivwechsel, in dem eine „fremde“ Position eingenommen und als gleichwertig zur eigenen betrachtet wird, kann Erkenntnisse bringen. Also auf! Gehen wir vom Rüssel zum rechten Vorderbein. Interkulturelle Spiritualität macht genau das: Tasten an unterschiedlichen Positionen. Zudem fragt sie, ob das Wesentliche, also das Wesen des Elefanten, überhaupt „ertastbar“ ist.
(Ursprünglich hier veröffentlicht)