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Anmerkungen zum Fall Winterhoff

Benedikt Maria Trappen

Was Nicole Rosenbach in der ARD-Reportage Warum Kinder keine Tyrannen sind (9. August 2021) darstellt, macht fassungslos. Ausgerechnet der „Anwalt der Kinder“, der seit langem zunehmend beobachtbare Verhaltensauffälligkeiten von Kindern hellsichtig auf unzureichende und unangemessene Bindung und Abgrenzung zu nicht in sich ruhenden, immer wieder überforderten, im „Katastrophenmodus“ funktionierenden erziehungspflichtigen „Erwachsenen“ zurückführte, soll Kinder als Narzissten diagnostiziert und niederschwellig auch langfristig medikamentös „ruhig gestellt“ haben. Während Michael Winterhoff seit Erscheinen des Buches Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden mit seinen gesellschaftskritischen Thesen zum Beststellerautor und Medienstar avancierte, interessierte sich offenbar kaum jemand dafür, was er als Kinder- und Jugendpsychiater tatsächlich in seiner inzwischen bundesweit ausgedehnten Praxis unternimmt.

Während er in Büchern und Vorträgen immer wieder Impulse setzte für ein Erwachen und Erwachsen der in unbewusster Symbiose verstrickten, von ihren Kindern emotional abhängigen, erziehungsunfähigen „Erwachsenen“, die damit den „Schwarzen Peter“ in der Hand hielten, stellte er in seiner Praxis offenbar ohne großen differentialdiagnostischen Aufwand auch unauffällige „Störenfriede“ medikamentös ruhig, ohne das unheilvolle Beziehungsgeschehen wirksam kommunikativ-therapeutisch aufzuarbeiten.

Dass dabei auch unterschiedliche Diagnosen gestellt und abgerechnet worden sein sollen und medizinisch zumindest fragwürdige körperliche Untersuchungen auch des Genitalbereiches zumindest den Verdacht sexuellen Missbrauchs aufkommen lassen, ruft neben der Ärztekammer, den Aufsichtsgremien der Krankenkassen, den Jugendämtern und heilpädagogischen Einrichtungen jetzt auch die Staatsanwaltschaft auf den Plan, die die erhobenen Vorwürfe zeitnah auf den begründeten Anfangsverdacht hin untersuchen muss.

Der gründlich recherchierte Bericht, der neben Betroffenen und deren Erziehungspersonen auch Fachleute zu Wort kommen lässt, zeigt vermutlich nur die Spitze des Eisberges. Ist die Aura der Kompetenz, des Ansehens, der Macht und Unantastbarkeit, in deren Schatten Winterhoff offenbar lange unbemerkt unheilvoll agiert hat, erst einmal gebrochen, werden sich weitere Betroffene zu Wort melden.

Dass Kinder, die in ihren primären Beziehungen und berechtigten Interessen nicht angemessen wahrgenommen, gespiegelt und begrenzt werden, irgendwann „abschalten“, „unerreichbar“ wirken und sich anderen, im Besonderen medialen Steuerungen überlassen, verwundert niemand. Auch nicht, dass sie rebellieren und auf vielfältigen lautstarken Wegen Aufmerksamkeit, Führung, Klarheit, Veränderung einfordern. Die Klimabewegung ist ein anderes eindrückliches Beispiel für dieses Generationenproblem.

Am 31. Mai 2012 habe ich gemeinsam mit Dr. Rüdiger Haas für das von Prof. Dr. Dr. José Sánchez de Murillo herausgegebene Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik AUFGANG mit Michael Winterhoff in dessen Praxis in Bonn ein mehrstündiges ausführliches Gespräch geführt. Gegen Ende der Unterhaltung kamen wir auf die grundlegende Bedeutung „emotionaler Intelligenz“ zu sprechen, die der amerikanische Psychiater Daniel Goleman bereits 1995 eingehend thematisiert hat. Winterhoff wirkte überrascht und irritiert. Entweder, schien uns, kannte er die in diesem Zusammenhang außerordentlich bedeutsamen Forschungsergebnisse Golemans nicht, oder aber er hatte sie bewusst unerwähnt gelassen. Nachdem die Gesprächsaufzeichnung aufwändig transkribiert worden und Winterhoff vereinbarungsgemäß zur Durchsicht zugegangen war, erhielten wir eine Mitteilung seines Verlages, dass Winterhoff die Zustimmung zur Veröffentlichung des Interviews nicht erteilt und im Falle des Verstoßes rechtliche Schritte folgen.

Dasselbe Muster von persönlichem Rückzug und anwaltlicher Kommunikation wiederholt sich jetzt wieder, auch, wenn Winterhoff sich inzwischen im Rahmen einer Stellungnahme zu dem Fernsehbeitrag auf seiner Homepage per Email angeblich erreichbar und gesprächsbereit zeigt.

Ich halte Winterhoffs gesellschaftliche Diagnose grundsätzlich immer noch für bedeutsam und zutreffend. Es ist so: Narzissten, Borderline-Patienten und Schizophrene sind oft hellsichtig für das Unbewusste der anderen, aber blind für sich selbst. Das könnte sich auch im Fall Winterhoff als zutreffend erweisen.

Offensichtlich ist es aber nicht leicht, aus dieser tiefenpsychologisch fundierten Zeit-Diagnose, die mehr das Umfeld als den einzelnen kindlichen Symptomträger betrifft und die in der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD 10) nicht vorgesehenen ist, therapeutisch wirksame alltagstaugliche Handlungsweisen abzuleiten und abzurechnen. Das jetzt offenbar gewordene Dilemma ist auch systembedingt.
 
„Wir Medien,“ heißt es zu Beginn des Fernsehbeitrags zutreffend, „haben ihn groß gemacht.“ Auf der Suche nach einem Erlöser, der von bedrängenden Problemen befreit,  ruft auch die Medien-Gesellschaft dem zum „Gott“ Überhöhten zuerst begeistert „Hosianna“ und kreuzigt schließlich den Menschen, der sie zu Umkehr und selbstkritischer Verhaltensänderung aufruft. Dass solch ein „stellvertretender Opfertod“ nur die Illusion einer Lösung ist, gilt damals wie heute.

Der aufrüttelnde Fernsehbericht lenkt die Aufmerksamkeit nun erstmals auf Winterhoffs Schatten, der bekanntlich umso größer und dunkler ist, je heller das Licht scheint. Wir alle denken und sagen in unterschiedlichem Maße das eine, handeln aber nicht immer entsprechend. Das gehört zum „Wahnsinn der Normalität“ (Arno Gruen). Wer aber im Licht der Öffentlichkeit steht, erhebliche Verantwortung trägt, fachlich gravierende Fehler macht und im Schatten seiner Aura machtbewusst unheilvoll agiert, muss sich dafür verantworten.

Ein Fall für die Ärztekammer, den Staatsanwalt und – die Politik.

Aber auch  ein Lehrstück für Wachsamkeit, Vorsicht, gesundes Misstrauen, Zivilcourage – und mutigen, investigativen, engagierten Journalismus.

Da Winterhoff inzwischen  ein weit verzweigter mächtiger Wirtschafts- und Sozialfaktor ist, zudem Krankenkassen, Jugendämter, Sozialeinrichtungen und Gerichte auf dem Prüfstand stehen, ist allerdings zu befürchten, dass das Imperium sich nicht demütig und reuevoll bekennen, die Vorwürfe zeitnah aufarbeiten und die Betroffenen angemessen entschädigen, sondern sich rechtfertigen und juristisch zurückschlagen wird. Das erfordert von den unmittelbar Betroffenen und Beteiligten viel Mut, Ausdauer, Frustrationstoleranz und kostbare Lebenszeit. Der Missbrauchsskandal hat, auch wenn die Aufarbeitung nach mehr als zehn Jahren immer noch nicht hinreichend gelungen ist, gezeigt, dass es sich lohnt.

[Der Fernsehbeitrag, auf den B.M. Trappen sich bezieht, ist in der WDR-Mediathek zu sehen: Warum Kinder keine Tyrannen sind.]