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Sinfonie des Lebens

Benedikt Maria Trappen

Estland war Jahrhunderte dem Einfluss und der Macht anderer Länder unterworfen. Die 1918 endlich gefeierte Unabhängigkeit währte nur 22 Jahre. Der Einverleibung des Landes durch die Sowjetunion, die 50 Jahre andauerte und 1991 mit der „singenden Revolution“ weitgehend friedlich beendet wurde, folgte die Besetzung des Landes durch die Deutschen 1941, die das Land friedlich fünf Jahrhunderte geprägt hatten. Auch, wenn das Verhältnis vieler Esten zu der nach Jahrzehnten oft immer noch nicht assimilierten russisch sprechenden Minderheit nicht unproblematisch ist, ist das Land von einem undramatischen und gelassenen Neben- , Mit- und Gegeneinander zahlreicher Gegensätze geprägt, deren Notwendigkeit für die Faktizität des Lebensspiels intuitiv geahnt und akzeptiert wird.

Traditionelle Märkte existieren neben Supermärkten, Holzhäuser neben modernen Stein- und Glasbauten, digitale Welten neben archaischen, moderne Medizin neben Naturheilkunde und schamanischem Können, verfallende Gehöfte und Fabriken neben modernen Industrieanlagen, Handwerk und Folklore neben Massenwaren und Massenkultur, unbefestigte Wege neben mehrspurigen Fahrbahnen, Reichtum und Luxus neben Kargheit und Armut, Junge neben Alten, Gesunde neben Behinderten und Kranken.

Wenn das Leben ein Traum ist, ein Spiel, Theater, ist es nicht mehr so entscheidend, welche Rolle man spielt. Was wirklich zählt, sind nicht die Attribute der Rolle, sondern die Qualitäten der Schauspieler. Der größtmögliche Fehler ist nichts, was man in seiner Rolle tut oder lässt, sondern nicht zu wissen oder zu vergessen, dass man spielt. Niemand ist, was er zu sein scheint. Und alle sind im Grunde dasselbe: Menschen, wie unzählige vor uns waren und nach uns sein werden. In der Stille und Weite der Wälder Estlands, den Städten und Dörfern pulst das Leben, dessen Harmonien und Disharmonien in gleicher Weise beitragen zur Fülle und Schönheit der Sinfonie des Lebens.

Muhu und Saaremaa
Inseln Estlands im Strom der Zeit

Wechselt man vom Festland auf die Inseln Estlands, verändert sich die Atmosphäre noch einmal sichtbar und spürbar. Seit Jahrtausenden brandet das Meer an die teils flachen sandigen, steinigen oder schilfbewachsenen, teils felsigen steilen Küsten, liegen Findlinge nahezu unverändert und unberührt vom Lauf der Zeit in Wäldern, Wiesen und an Stränden. Häuser und Gehöfte aus Holz oder Steinen, reetgedeckt oder mit Dächern aus Blech, oft bemoost und bewachsen, umgeben von schräg gebauten Zäunen aus Holz oder aus Steinen aufgehäuften Mauern und den typischen Brunnen, liegen inmitten der wildwüchsigen weiten Landschaft. Altes Gerät aus Holz oder Eisen steht neben nicht mehr benutzten Booten und sorgsam gestapeltem Brennholz. Windmühlen, selten noch benutzt, oft schon verfallen, gehören ebenso zum Bild wie die knorrigen kleinwüchsigen Wacholderbäume mit ihrem herben Harzgeruch, mit deren Holz seit Jahrhunderten Fisch und Käse geräuchert werden. Im Sommer wachsen Gräser und Schilf hoch zwischen den in allen Formen und Größen umherliegenden Steinen, unbefestigten Wegen, Pfosten und Zäunen, Blumen blühen in leuchtenden Farben, wilde Erdbeeren leuchten rot aus dem dichten feuchten Grün und aromatische Beeren hängen gelb und blau an bodennahen Sträuchern.  Immer wieder stößt man auf einst Bewohntes und Benutztes, das längst verlassen steht und verfällt: Häuser, Höfe, Scheunen, auch Kirchen. Friedhöfe reichen, nur durch aus unbehauenen Steinen aufeinander geschichtete niedrige Mauern abgegrenzt, an die Wege der Lebenden.

Zeit hat sich hier angehäuft, sichtbar und spürbar. Und wie Balsam sickert heilsam in die Seele ein beruhigender kühler Strom, der auslöscht, was einen vor kurzem noch beunruhigt und mit Sorge erfüllt hat. Staunend stellt man fest, wie schnell und gründlich die Natur sich das Verlorene zurückerobert. Tiefer Friede ruht auf allem, ein gelassenes Einverstanden Sein mit dem Gang des Tages, der Jahreszeiten, Jahrhunderte und Jahrtausende. Ein Tag vergeht wie ein ganzes Leben: eine Folge von Grundzeiten, die das Alltägliche durchstimmen und tragen. Dankbarkeit erfüllt den Menschen, der, befreit von der Unruhe des allzu Vielen, mit seinen wesentlichen Bedürfnissen übereinstimmt, in deren täglicher Erfüllung er Freude und Zufriedenheit findet.

Freilich ist der Sommer hier kurz. Bald werden die Tage wieder kürzer. Wind und Regen, Schnee, Eis und die lange Dunkelheit verlangsamen im Winter das Leben bis zum Stillstand. Wer jetzt noch hier ist, muss in sich bewahren, wovon er zehrt und mit sich allein sein können. Wer das Leben hier aber einmal gespürt hat, nimmt etwas Unverlierbares mit, wenn er zurückkehrt in die Geschäftigkeit und Zeitlosigkeit des – wohin nur? – fortgeschrittenen modernen Lebens.