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Der Wahnsinn der Normalität – Arno Gruen

Benedikt Maria Trappen

„For Arno – the first psychologist whom Nietzsche would have liked!“ –  Diese handschriftliche Widmung eines Schriftstellers und Malers auf einem seiner Drucke wäre auch eine seltene   und bemerkenswerte Auszeichnung, wenn sie nicht von Henry Miller stammen und einem Psychoanalytiker gelten würde, der große Affinität zu den Schriften Jakob Böhmes empfunden hat. Ich lernte Arno Gruen, der 1923 als Kind polnisch-russisch-stämmiger Juden    in Berlin geboren wurde, mit dreizehn Jahren vor den Nazis in die USA flüchten musste und erst 1979 nach Europa zurückgekehrt ist, wo er in der Schweiz eine neue Heimat fand, 1989 anlässlich einer Lesung in Saarbrücken kennen. Seine beiden ersten auf Deutsch erschienenen Bücher Der Verrat am Selbst (1984) und Der Wahnsinn der Normalität (1987) hatte ich bereits gelesen. Der frühe Abschied. Eine Deutung des plötzlichen Kindstodes, gerade erschienen, war der Anlass dieser Lese-Reise.

Meine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse war damals nicht mehr neu. Die Bücher von Arno Gruen aber durchwehte ein ganz besonderer Wind, der in Sätzen wie diesen zum Ausdruck kommt: „Das Bedenkliche an unserer Anpassung ist nicht nur, daß wir alle bis zu einem gewissen Grad unfreiwillig nach dem Willen anderer leben. Das Gefährliche ist vielmehr, daß wir in dem Moment, in dem wir sozusagen außerhalb unserer Körperlichkeit leben, anfangen, die Freiheit zu fürchten, die durch den Durchbruch unserer ursprünglichen Selbstgefühle plötzlich erwacht ist.“ (Der Verrat am Selbst, S. 38). Mit dem Lesen dieses Satzes stand ein weiterer Autor auf meiner Seite, der tiefer dachte, mehr erfahren hatte, mehr wusste und mehr fühlte, der lebendiger war als andere Psychologen; hatte ich auf meiner inzwischen zehn Jahre dauernden Suche, bei der Träumen und außerordentlichen Erlebnisweisen besondere Aufmerksamkeit zukam, einen neuen Verbündeten gewonnen. Wer mein Buch Der Himmel ist auch die andere Erde“ (2016) liest, stößt immer wieder auf den Titel des zweiten Buches, der Mantra-artig wiederholt wird: „Der Wahnsinn der Normalität“. „Die Kernfrage der menschlichen Entwicklung ist die nach dem Umgang mit der eigenen Verwundbarkeit. Hat ein Mensch sie durchlebt und ihre Nähe zu Vernichtung und Tod erfahren? Hat er erkannt, daß der Tod von äußeren Erscheinungsformen des Selbst nicht gleichbedeutend ist mit dem Tod des Selbst? […] Paradoxerweise muß man den Schrecken des Sterbens durchleben, um lebendig zu sein. Wer dies nie gewagt hat, wird sich ständig vor dem Leben fürchten, das er nicht gelebt hat.“ (S. 179).

Arno Gruen strahlte Wärme aus, Offenheit, Authentizität und Mitgefühl, die es leicht machten, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und nach einigen biografischen Nachfragen ermunterte er mich, ihm eigene Texte zukommen zu lassen. Den von April 1989 bis Juni 1990 dauernden Briefwechsel hatte ich bis vor wenigen Tagen völlig vergessen. Und ich war sehr überrascht und tief bewegt, seine handschriftlichen Briefe nach so vielen Jahren wieder zu lesen:

„Lieber Herr Trappen, Ich war weg und komme deswegen erst jetzt dazu, Ihren Brief zu beantworten und mich für den schönen Kunze-Band zu bedanken“, schrieb er am 01.04.89. „Ich lese Ihre Seiten. Sie sind ein wahrer edler Schriftsteller. […] Auf Seite 3 der ‚Briefe aus der Unbewusstheit‘ würde ich Sie gerne zitieren (07. November). Da sind viele wunderbare Formulierungen in Ihrem Schreiben.“  – „Psychoanalyse hin und her – nein, es kommt auf die Person an. Die meisten, leider, die ich kenne, gebrauchen die Theorie, um sich vor Kontakt mit anderen Menschen – einbezogen ihre Patienten – zu schützen. Wenn Henry Miller mir das auf einer seiner Malereien schrieb, schrieb er nicht ‚Psychoanalytiker‘ sondern ‚Psychologist‘. [….] – Da gibt es aber einige Analytiker, die anders sind. Martti Siirala ist einer. Auf Deutsch gibt es ‚Die Schizophrenie – des Einzelnen und der Allgemeinheit‘. […] Die sogenannte Pathologie kann nicht ohne Bezug auf die gesellschaftliche Pathologie erfasst werden.“ (8. April 1989).

Neben den Büchern von C. G. Jung, Medard Boss, Heinz Kohut und Otto Kernberg wurde diese Empfehlung zu einer besonders wichtigen Lese-Erfahrung. Auch das Buch Todeslandschaften der Seele von Gaetano Benedetti, der neben Medard Boss der wichtigste Lehrer von Siirala war. Dass Religion, radikal verstanden, tiefer und revolutionärer ist als die Psychoanalyse, war eine – irgendwie bereits geahnte – Offenbarung: „Zwar ist uns der Sinn der kirchlich gebräuchlichen Glaubenssymptome verblaßt – und viel mehr als das: Unsere kirchliche Organisation – die anerkannte Form, die soziale Struktur unseres Kirch-seins zeugt von einer tiefen Entleiblichung. […] Zur Gemeinsamkeit der Glaubenssymbole zu finden – dies ist wohl eine der größten und schwierigsten Aufgaben unserer Zeit. […] Und doch sind da und dort Menschen auf dem Wege, neu zum Sinn christlicher Glaubenssymbole zu finden.“ (Siirala S. 214). Erbsünde, Kreuzigung, Tod, Auferstehung, Neugeburt, Schöpfung: Keine Mythen mehr, keine Kindergeschichten, kein Kinderglaube, sondern die Tiefenrealität des Lebens…

Gaetano Benedetti machte zudem unmissverständlich klar, dass nur ein Therapeut, der fähig und bereit ist, in die Hölle hinabzusteigen – die eigene und die der anderen – die schwer erträgliche Tiefenrealität des Lebens nicht nur zu sehen, sondern zu fühlen, dem an dem unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen seinem authentischen Erleben und der gesellschaftlich-machtvollen Deutung der Wirklichkeit Leidenden helfen kann. Konstantin Wecker, der widerständige Komponist, Dichter, Musiker und Sänger, bekennender Anarchist, Utopist und Autor von Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand, schätzt Arno Gruen wie ich und ist mit ihm gemeinsam aufgetreten.

Bis zum Wiederlesen der Briefe Arno Gruens hätte ich auf Nachfrage wahrscheinlich weder Martti Siirala, noch Gaetano Benedetti als wesentliche, prägende Einflüsse erinnert und genannt, möglicherweise vielleicht sogar Arno Gruen vergessen… Durch ihn habe ich Henry Miller entdeckt. Millers Haus in der wunderbaren Landschaft von Big Sur habe ich 2018 mit Frau und Tochter besucht.

Die Begegnung mit Arno Gruen fand wenige Monate vor dem Sturz in eine tiefe Krise statt, die erneut alles in Frage stellte und zunichte zu machen schien, was Sinn meines Lebens war. Mit Werner Zurfluh und José Sanchez zog ich auch ihn ins Vertrauen. „Ich bin gerührt von Ihren Briefen.“, antwortete er am 13. Juli 1989, „Auch froh, daß Sie Siirala fanden.“

„Es gibt keine Methode oder Technik, die zu einem Selbst führen“, heißt es in Der Verrat am Selbst. „Die Einstellung ist der Schlüssel zur Autonomie […] Die Mannigfaltigkeit der Wege zu ihr entspricht der Einzigartigkeit des einzelnen. Deswegen muß man seinen Weg alleine finden. Begleitung und Freunde sind dabei nötig, aber die Verantwortung für die Wahl des Weges muß die eigene sein […] Man muss es wagen, das eigene Selbst zum Erleben zu bringen, um zu erfahren, daß die Angstgespenster, die im Wege stehen, eigentlich machtlos sind.“ (S. 161). „Es ist ein hartes Ringen.“ (4. Juni 1990).

[Das Porträtfoto Arno Gruens stammt von Timo Virtala, Lapinjärvi (Finland)]