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Der Anblick der Seele

Judita Habermann

In vielen alten Kulturen herrschte die Vorstellung, dass sich im Spiegelbild die Seele eines Menschen zeigt. Mit dem Spiegel, glaubte man, ließen sich Seelen fangen und festhalten. Im griechischen Mythos wird die Seele des Dionysos von Titanen im Spiegel gebannt. Ähnliche Rollen spielen Spiegel in Göttererzählungen Asiens, etwa jenen um die japanische Sonnengöttin Amaterasu.

Der Zauber, der von Spiegeln ausging, mag damit zusammenhängen, dass ein Mensch früher seine Gestalt nur selten zu Gesicht bekam. Es bedurfte einer klaren und unbewegten Wasserfläche. In der Regel sah das eigene Auge anderes und andere, nie aber sich selbst. Jeder registrierte die Außenwelt und blieb sich in der Unsichtbarkeit seines Inneren ein Geheimnis. Dem Menschen wurden andere und anderes bewusst, was aber war dieses Bewusstsein?

Die Inflation der Abbilder

In den raren Fällen, in denen man sich selbst gespiegelt sah, hatte man Anteil an diesem Zauber des Bewusstseins. Endlich nahm man den wahr, der sonst die Welt wahrnimmt und dabei im Verborgenen bleibt. Das war ein erhabenes, quasi göttliches Erlebnis und barg die Gefahr, sich in sich selbst zu verlieren. Dafür steht die Geschichte von Narziss, den sein Spiegelbild im Wasser so faszinierte, dass er zum Namensgeber einer heute oft zitierten Persönlichkeitsstörung wurde.

Inzwischen üben Spiegel kaum noch einen solchen Zauber aus. Wer in einem Einkaufszentrum an großen Spiegelflächen vorübergeht, tut dies achtlos und fürchtet nicht, dass sich seine Seele darin verirrt. Auch die früher mancherorts verbreitete Furcht, Fotografen raubten Menschen mit ihrem Abbild die Seele, verschwindet zusehends. Überhaupt kommt die Seele aus der Mode. In der Psychologie, von der Wortbedeutung eigentlich die Wissenschaft von der Seele, spielt sie schon so gut wie keine Rolle mehr. Es dominieren Ideen von rein materiell basierten mentalen Zuständen.

Vielleicht waren die alten Ängste tatsächlich berechtigt, und uns kommt scheibchenweise die Seele abhanden, indem wir tausende Male in Spiegel blicken und unsere Gestalt auf hunderte Fotos und Videos bannen lassen. Wir empfinden das Leben nicht mehr in uns und sehen uns als bloße Materie, wurden von Subjekten zu Objekten. Die materialistische Denkweise ist allerdings keinesfalls so neu wie die Fotografie und die Massenproduktion von Spiegeln.

Vergebliche Seelensuche

Schon bevor man menschliche Gestalten inflationär ablichtete und reflektierte, gab es Zweifel an der Seele. Vor kurzen las ich in dem klassischen buddhistischen Buch Dīghanikāya von dem indischen König Pāyāsi. Dieser wollte vor mehr als zwei Jahrtausenden widerlegen, dass der Mensch beseelt sei. Dazu ordnete er Experimente mit zum Tode verurteilten Straftätern an. Den Körper eines Hingerichteten ließ Pāyāsi in kleinste Einzelteile zerlegen, um zu erkennen, dass sich nirgendwo die Spur einer Seele verbarg. Einen anderen Delinquenten ließ er vor und nach der Exekution wiegen. Dass kein Gewichtsverlust eintrat, sprach gegen das Entweichen einer Seele im Tod. Schließlich ließ der König einen Lebenden in einem hermetisch verschlossenen Gefäß sterben. Als man dieses nach einiger Zeit öffnete, war der Mensch tot, allerdings fanden sich vorher nicht vorhandene Würmer, wodurch der Beweis erbracht schien, dass Leben aus toter Materie entsteht. Durfte man fortan auf die Annahme einer Realität des Wesens, die jenseits des Physischen liegt, verzichten?

Naiver Materialismus

Pāyāsis unappetitliche Experimente erinnern an den Versuch, ein Autoradio zu zerlegen, um den netten Mann zu finden, der vor Verkehrsstaus und Geisterfahrern warnt. Ist ein Materialismus, der eben nur den objektiven Stoff und nicht das subjektive Bewusstsein sieht, nicht erschreckend naiv?

Die Stoiker hielten die menschliche Seele für ein unbeschriebenes Blatt, das sich erst durch das Wahrnehmungen füllt. Jedoch musste es, so nahmen sie an, die Weltordnung zumindest in Form eines Tropfens oder Funkens im Menschen geben, dem Logos Spermatikos. Mit diesem Seelenfünklein gibt es ein komprimiertes Gegenstück der Welt ins uns, das uns hilft alles, was wir wahrnehmen, zu ordnen und folgerichtig zu handeln.

Natürlich ist das nur ein Modell von vielen, dass das von Materialisten unverstandene Wunder des Bewusstseins erklären will. Ich kann mich als Ausschnitt eines Ganzen sehen, aber auch als etwas, das im Ganzen wurzelt und daraus hervorragt. Aber vergessen sollte ich nie, dass da etwas existiert, das mehr ist als alles, was sich materiell auseinandernehmen lässt.