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Mein Sein

Volker Zotz

15. März 2021. „Wer bin ich?“ Mit dieser Frage begann André Breton 1928 sein Buch Nadja, in dem der Gedanke eine wichtige Rolle spielt, dass das Leben wie eine verschlüsselte Botschaft dechiffriert werden muss. Demnach wüsste ich nicht von vornherein, wer ich bin.

Noch vor der Frage nach dem Wer lässt sich jene nach dem Sein selbst stellen: Bin ich? Spontan neigt man zur Bejahung. Wer fragt, der zweifelt; wer zweifelt, der denkt; wer denkt, der ist. So scheint das Problem auf cartesianische Weise theoretisch gelöst. In der Praxis stellt es sich ohnehin selten. Schließlich sitze ich hier, atme, habe Durst und überlege. Da muss ich gar nicht fragen, ob ich bin.

Doch so einfach will ich nicht über Sein oder Nichtsein hinwegsehen. Was genau erlebt sich als dieses Ich bin? Die überzeugende Antwort bleibe ich schuldig. Einen stechenden Schmerz in der Wade oder die Beschaffenheit der Haustür kann ich halbwegs treffend beschreiben. Beim Ichbewusstsein versagt begriffliches Erläutern.

Nichts erklärt, wie und warum es zustande kommt. Dennoch erscheint dieses Ich als einzige Konstante des Lebens. „Als ich noch ein Kind war,“ sagt man und weiß subjektiv um Erlebnisse eines kleineren, dünneren und mit weniger Wissen befrachteten Wesens, das sich schon als dasselbe wie heute empfand – oder das heute noch als dasselbe empfunden wird. Irgendwie hat das Ich demnach mit anhaltender Erinnerung zu tun. Aber sie gibt nicht den Ausschlag, denn ich bin da, gleichgültig ob mein Gedächtnis bis ins dritte Lebensjahr zurückreicht oder nur die letzten beiden Tage umfasst.

Sogar das Verneinen seiner Beständigkeit beharrt auf eine solche: „Ich bin nach dem Unfall nicht mehr derselbe, der ich vorher war.“ Der Satz sagt das Gegenteil dessen, was er vorgibt: Ich bin immer noch – und allen Brüchen zum Trotz – kein anderer als ich. Vielleicht verhalte ich mich nach dem vermeintlichen Bruch vorsichtiger und ändere tausend weitere Dinge in meinem Verhalten. Doch all das ist akzidentiell und berührt die empfundene Substanz des Ich bin nicht.

Wäre ich größer und dünner, fleißiger, gebildeter und sportlicher, würde ich statt Deutsch gewöhnlich Kreolisch oder Serbisch sprechen, wäre ich stärker oder schwächer an Willen, – meine Ich-Erfahrung als solche tangierte das kaum. Sie lässt sich weder an konkreten Einzelheiten festmachen, noch ist sie deren Summe. Ich bleibe mir Mysterium.

An Hypothesen über das Wesen des Ich mangelt es nicht. Im alten Indien verstanden die Jainisten das Ich-Bewusstsein als ewig und letztlich unveränderlich. Andere widersprachen, es sei ein flüchtiges Naturphänomen wie die Gasblase in einer gärenden Flüssigkeit, die aufsteigt und bald zerplatzt, als sei sie nie gewesen. Im frühen Buddhismus sprach man vom bedingten Ich, das nicht aus sich heraus existiert, sondern sich als Reflex aus Ursachen wie Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken ergibt.

Irgendwie scheint im Hinblick auf das Erleben jedes Modell so zutreffend wie unzutreffend. Was ich als Ich erfahre ist zugleich beständig und wechselhaft. Zwar erhält es Ich im Wechsel der Stimmungen verschiedene Färbungen. Doch überdauert es emotionale Schwankungen, weshalb es sich in diesen nicht zu erschöpfen scheint. Es mutet an, als schöben sich Launen vor das Ich wie Wolken vor die Sonne, deren Wesen davon unberührt bleibt, solange sie noch nicht erlosch.

Ähnliches gilt für Gedanken. Das Ich, das denkt oder in dem es denkt oder das durch Denken hervorkommt, erlebt sich im Wechsel des Gedachten kontinuierlich als dasselbe. Sein Bewusstsein hängt nicht davon ab, ob es die Theorie des Urknalls oder ein Rezept für Kartoffelsuppe reflektiert.

Ebenso steht es mit dem Willen, der mit dem Ich verknüpft auftritt. Heute will man dies, morgen jenes. Das Interesse an einst von Herzen Begehrtes geht vollends verloren. Somit konstituiert nichts Konkretes, das wahrgenommen, gefühlt, gedacht oder gewollt wird, das Ich.

Lässt sich dieses in allem präsente Ich unmittelbar erfahren, abseits jeden Wahrnehmens und Gefühls, Denkens und Wollens?

„Ja,“ sagte der Jainismus und betonte die Unvergänglichkeit der Individualität, die erfahren wird, sobald sich das Wesen von allem löst. „Nein,“ sagte man im frühen Buddhismus. Es gibt kein Ich an sich, nur ein bedingt entstandenes Bewusstsein, das mit dem Wegfall seiner Ursachen erlischt. „Doch,“ sagte der indische Mystiker Ramana Maharshi und empfahl ein „Ergründen des Wesens“ (ātma-vicāra), bei dem sich die Aufmerksamkeit nach innen richtet und die Frage nach dem eigenen Wesen konsequent verfolgt, bis die Quelle des Ich-Bewusstseins erreicht ist. Diese ist für Ramana nichts Individuelles, sondern ein göttlicher Urgrund, dem die Gesamtheit des Seienden entspringt.

Da sich dies alles von Menschen erleben, nachvollziehen und begründen ließ, mag das Ich einerseits erheblich weniger und zugleich sehr viel mehr sein, als es vorgibt. André Breton fragte 1928 in Nadja, ob das, was ich für Äußerungen meines Daseins halte, „lediglich das in die Grenzen dieses Lebens Tretende einer Aktivität ist, deren wahres Feld mir vollends unbekannt ist.“ Ob ich bin oder nicht bin und wer ich dann bin oder nicht bin, bleibt für heute offen.